R a k e t e n s p e z i a l i s t e n

Am 22. Oktober 1946 fand eine umstrittene Aktion in der "sowjetisch besetzten Zone" statt: Rund 2100 sogenannte Spezialisten aller Wissens- und Fachgebiete, einschließlich ihrer Familien und gesamten Hausrat, wurden gegen ihren Willen per Zug in die UdSSR verbracht. Darunter 308 "Spezialisten der reaktiven Technik".

Auf diese "Raketenspezialisten" bin ich während meiner Vorbereitung auf die Vorlesungsreihe "Raketentechnik" an der Technischen Universität Dresden eigentlich nur durch Zufall gestoßen. "Aufhänger" war die von den Historikern immer wieder diskutierte Aussage Gröttrups, des Leiters der größten Raketenspezialistengruppe in der UdSSR, dass "eine exakte Prognose, in welchem Umfang die Arbeitsergebnisse ... von der russischen Entwicklung genutzt wurden, nicht gestellt werden kann" (Gröttrup, Helmut: Aus den Arbeiten des deutschen Raketen-Kollektivs in der Sowjet-Union; "Raketentechnik und Raumfahrtforschung", Zeitschrift der DGRR, Heft 2/1958). Das gipfelte dann 1992 in der Aussage von Albrecht/Heinemann-Grüder/Wellmann ("Die Spezialisten", Dietz Verlag Berlin, S. 172) "Ob und in welchem Maße die in den Skizzenprojekten der deutschen Raketenkonstrukteure entwickelten Ideen in die sowjetische Entwicklung eingingen, lässt sich schwer abschätzen".
Schießkommando Kap Jar
Bild 1 (rechts):
Als im Oktober 1947 in der Steppe bei Kapustin Jar die UdSSR ihre ersten Flüssigkeitsgroßraketen vom erbeuteten Typ "Aggregat 4" startete, unterstützten auch deutsche Raketenspezialisten diese Aktion. Neben den Experten, die in den Werken die Technik vorbereiteten, stand auch vor Ort eine "Notmannschaft" von 15 Personen zur Verfügung, falls etwas schief gehen sollte. Und es ging einiges verquer.
Im Bild die Start-Mannschaft mit dem Leiter des "Kollektivs" aus dem Ministerium für Bewaffnung, das auf der Insel Gorodomlja stationiert war: (v.l.n.r.) Karl ("Viktor") Stahl, Dr. Johannes Hoch (Steuerungsexperte), Dipl.-Ing. Helmut Gröttrup (Leiter), Fritz Viebach, Hans-Albert Vilter.

Nun, ich als Techniker wollte es genauer wissen und analysierte die sowjetische Raketentechnik nach 1945 und die bis dahin gelaufenen deutschen Projekte. Glücklicherweise erhielt ich seitens meiner Fachpartner aus Moskau und von Altspezialisten hier in Deutschland detaillierte, bis heute nicht veröffentlichte Unterlagen, die den großen Einfluss der deutschen Entwicklungen beweisen, obwohl dies auch heute noch von russischer Seite vehement bestritten wird. Genauso "uninteressant" scheinen meine Erkenntnisse den deutschen Medien zu sein...

Erste Entdeckungen ließ ich in meine Vorlesungsreihe an der TU Dresden, spätere Forschungsergebnisse 1997 im Buch von Jürgen Michels (siehe weiter unten!) und 1999 in meine Artikelserie "Die Deutschen und Raketentriebwerksentwicklung in der UdSSR" (in "Luft- und Raumfahrt" 2 - 4/1999), außerdem permanent in mein Infoblatt "Raketen*Post" einfließen. Als Quintessenz kann ich heute behaupten: Die frühen Erfolge der UdSSR auf dem Raumfahrtsektor hingen im entscheidenden Maße von den Tätigkeiten deutscher Raketentriebwerksspezialisten im Büro 456 von W.P. Gluschko in Chimki bei Moskau ab. Grundsätzliche Dresdner Ideen, kollektives Optimieren in der Fremde und wissbegierige russische Fachleute, die die deutschen Anarbeitungen vollendeten, erbrachten eine Triebwerksfamilie, die kaum noch etwas mit der Aggregat 4-Technologie verbandt und doch als Quelle in der "Interessengemeinschaft Vorhaben Peenemünde" des Heereswaffenamtes der Deutschen Wehrmacht zu finden ist.

So entstand die Unglaublichkeit, dass sogar noch heute die SOJUS-Trägerraketen mit Triebwerken fliegen, die ihren Ursprung im Maschinenlaboratorium der TH Dresden aus dem Jahre 1943 haben. Aber auch das Raketen-Zellen-Layout, die Struktur des Sprengkopfes und die Philosophie der Steuerung beruhen auf Ideen deutscher Spezialisten, wie ich endlich beweisen kann.

  Bild 2 (links):
Gleich zwei Ideen der deutschen Raketenkonstrukteure im russischen Zwangsarbeitsinstitut auf Gorodomlja sollten Wegweiser für die sowjetische Raketentechnik werden: Mit der kegelförmigen Rakete G-4 (russische offizielle Bezeichnung R-14, geheime R-10) legte man den Grundstein für eine neue Fertigungstechnologie, die einfachere, zweidimensional gekrümmte Tankstrukturen erlaubte. Das Bündeln mehrerer dieser Kegelraketen ermöglichte eine geniale Startphilosophie, die das Zünden der Erst- und Zweitstufe gleichzeitig vorsah. Noch heute fliegt so jede SOJUS-Trägerrakete.

 

 

[Fortsetzung auf Seite 2 ...]

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